Gretchen 89 ff – MainEcho vom 27.10.2015

Zehnmal die Kästchen-Szene – Mit “Gretchen 89 ff.” ist dem Alzenauer Theaterverein Kultburg ein weiterer Coup gelungen

Alzenau  Ja, wie spielt man denn nun ein Stück, wie es wirklich ist? Die Episode, die Sprecherin Barbara Vogel-Hohm (auch Bühnenbild und Kostüme) zu Beginn der neuesten Kultburg-Aufführung »Gretchen 89ff.« erzählt, zeigt einen philosophischen Abgrund hinter dem Satz. Was ist richtig gespielt, was falsch?
Fakt ist: Es gibt selige und unselige Kombinationen von Regisseuren und Schauspielern, weil hier ganz unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen, mal wie ein Windhauch, mal wie ein Tornado…

Das Publikum abholen

Mit Lutz Hübners »Gretchen 89ff« ist dem 2001 gegründeten Alzenauer Theaterverein Kultburg ein weiterer Coup gelungen. Zu den zehn Szenen, die jeweils einen bestimmten Typen von Regisseur und Gretchen beim Proben der Schatzkästchen-Szene aus Goethes “Faust” zeigen, hat Josef Pömmerl eine Anfangs- und eine Schlussszene hinzugefügt, die das Stück runder machen, das Publikum sozusagen abholen und nach Hause bringen sollen.
Der Typ Schmerzensmann (Heiko Bozem) brüllt sein Gretchen (Moniera Romann) in Grund und Boden (»Ich muss den Irrsinn spüren!«), während das Tourneepferd (Andreas Urbaniak) seine Hauptdarstellerin (Anna Jäger) mit Wiener Charme umgarnt und sozusagen auf Händen zum Kaffee trägt. Der alte Haudegen (Christoph Thesing) lebt in vergangenen Zeiten, als er noch auf der Bühne stand und schläft dabei ein, der Freudianer (Heiko Bozem) nervt sein Gretchen (Carmen Reichenbach) mit versauten Interpretationen, die im Kästchen als Phallus-Symbol gipfeln. Anna Jäger treibt als Anfängerin mit ihrer Übermotivation ihren Regisseur in den Wahnsinn, die Dramaturgin (Gabi Wittemann) fordert ihr männliches Gretchen an die Grenzen (»denk mal geschlechtsneutral!«), und Matthias Wissel rationalisiert als Regisseur-Typ »Der Streicher« gleich die ganze Szene weg…

Risiko und Riesenchance

Das Stück kommt bei den 40 Besuchern im Zimmertheater hervorragend an, und jede Szene erhält großen Applaus. Immer wieder ist es bewundernswert, wie sich die Akteure, die auf einen Meter zum Publikum entfernt auf der Bühne stehen, in ihren Rollen austoben. Die Nähe ist auf jeden Fall Risiko und Riesenchance gleichzeitig. Bei »Gretchen 89ff« läuft es aber wie so oft bei der Kultburg wie am Schnürchen…

Doris Huhn